von Senol Becirovski
Kann man ein bisschen staatenlos sein? Nach der üblichen Verwendung des Begriffs handelt es sich bei der Staatenlosigkeit um eine zweiwertige Kategorie. Staatenlos ist, wer keine Staatsangehörigkeit besitzt. Jeder Mensch ist deswegen entweder Staatenloser oder Staatsangehöriger. Damit verbindet sich seit Hannah Arendt eine ganze politische Theorie. Sie fasste in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die politische Idee der Menschenrechte in die einflussreiche Idee eines Menschenrechts auf Zugehörigkeit zu einem politischen Verband zusammen: „das Recht, Rechte zu haben.“ Damit berührt Arendt einen zentralen Aspekt moderner Rechtsordnungen: die Frage nach der rechtlichen Anerkennung und dem Schutz individueller Rechte durch staatliche Strukturen, zu denen man entweder in einem personellen Verhältnis der Zugehörigkeit steht – oder nicht. Erreicht wird dies durch die rechtliche Anerkennung der Staatsangehörigkeiten durch souveräne Staaten untereinander. Nur wer keine Staatsangehörigkeit eines anerkannten Staates hat, ist de iure staatenlos.
Diese klare, binäre Ordnung blendet jedoch einen Graubereich aus, der in der völkerrechtlichen und nationalen Praxis seit Langem existiert: Menschen, die faktisch ohne eine wirksame Staatsangehörigkeit leben, deren Status jedoch nicht offiziell als Staatenlosigkeit anerkannt wird. Dieser Zwischenraum ist mehr als nur eine juristische Nuance – er prägt Lebensrealitäten oft über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Genau in diesem Spannungsfeld zwischen formaler Definition und gelebter Wirklichkeit liegen sowohl mein eigener biografischer Hintergrund als auch der Ausgangspunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit: meine Dissertation zur rechtlichen Stellung de facto Staatenloser in Deutschland.
Da faktisch staatenlose Personen zumindest aus juristischer Sicht eine Staatsbürgerschaft besitzen und dies aufgrund völkerrechtlicher Grundsätze, wie unter anderem dem Interventionsverbot, von jedem Staat respektiert werden muss, ist ihre Lage deutlich prekärer als die der de iure Staatenlosen. Aufgrund der rechtlichen Zugehörigkeit zu einem Staat wird in der Völkerrechtswissenschaft oftmals argumentiert, dass die zahlreichen Abkommen zur Vermeidung, Verminderung und Verbesserung der rechtlichen Stellung von Staatenlosen nicht auf de facto Staatenlose anwendbar seien. Die hieraus sich ergebenden Folgen sind erheblich: Faktisch Staatenlose können einerseits ihre Rechte im „Heimatstaat“ nicht ausüben, was unter anderem auf diskriminierende bzw. rassistische Gründe zurückzuführen ist. Andererseits wird ihnen die Inanspruchnahme von Schutzmöglichkeiten erschwert, da sie gerade nicht als Staatenlose anerkannt werden. So geraten sie in ein rechtliches Vakuum, dem sie sich ohne externe Unterstützung nur schwerlich entziehen können. Das konkrete Problem hierbei ist oft, dass die Staatsangehörigkeit in der Praxis aufgrund der Herkunft lediglich vermutet wird. Von den Betroffenen wird daher ein klarer Nachweis über ebenjene Staatsangehörigkeit verlangt, den diese aus den unterschiedlichsten Gründen aber nicht erbringen können.
Mit dieser unsichtbaren Grenze zwischen formaler Staatsangehörigkeit und tatsächlicher Teilhabe bin ich selbst den bisherigen Großteil meines Lebens konfrontiert gewesen. Als faktisch staatenlose Person habe ich erlebt, was es bedeutet, in amtlichen Registern einer Staatsbürgerschaft zugeordnet zu sein, die im Alltag keinerlei Rechte eröffnet – weder verlässlichen Zugang zu Dokumenten noch echte rechtliche Sicherheit. Diese Erfahrung, zwischen zwei Kategorien zu fallen und in einem rechtlichen Niemandsland zu leben, war nicht nur meine größte Motivation, Jura zu studieren, sondern prägt heute auch meine wissenschaftliche Arbeit. Mit meiner Dissertation möchte ich diesen „blinden Fleck“ im deutschen Recht sichtbar machen, die besonderen rechtlichen Hürden für de facto Staatenlose systematisch analysieren und Wege aufzeigen, wie ihre Situation rechtlich abgesichert und praktisch verbessert werden kann. Dieses Anliegen verfolge ich nicht nur an der Universität, sondern auch in meiner ehrenamtlichen Arbeit bei Statefree, wo ich mein Wissen einbringe, um Betroffene zu unterstützen und politische Veränderungen mitzugestalten.


